Normen

Es ist ein Kennzeichen von Systemen, daß sie für ihre Elemente die Zahl der zur Verfügung stehenden Wahlmöglichkeiten reduzieren. Foerster nennt diesen Vorgang "trivialisieren": Mitglieder von lebende Systeme, die zunächst ein unendlich große und niemals vorhersagbare Repertoire an möglichen Verhaltens- und Erlebniswelten haben, werden im Verlaufe ihrer Zugehörigkeit zu dem System "trivialisiert", d.h. es werden Klassen von Verhaltensweisen ausgebildet (Gebot, Empfehlungen), die zu den Systemregeln passen, andere unterdrückt (Verbote), die nicht passen. Aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft (System, entwickelt jeder Mensch im Laufe seines Lebens bestimmte Einschränkungen für sich und seine Möglichkeiten. Dieses Phänomen wird mit Begriffen wie "Lebensstil", "Script", "Glaubenssystem", "Selbstkonzept" usw. belegt. In diesen vielfach nicht bewußten Konstruktionen einer Person finden sich Vorannahmen und Ideen darüber, wie man sich verhalten soll, wozu man sich in der Lage fühlt, wozu man berechtigt ist, wozu nicht. Man spricht von "inneren Landkarten", die als Orientierungshilfen bei der Bewältigung der äußeren Komplexität helfen. Diese Konstruktionen unterliegen der dialektischen Verbindung von Einschränkung und Bewältigung, und es stellt sich oft die Frage, ob diese Konstruktionen eine angemessene Lebensbewältigung ermöglichen, oder ob sie eine Person übermäßig einschränken (ob z.B. Mord und Totschlag als Konfliktbewältigung ausgeschlossen ist, oder ob z. B. bereits der Ausdruck von Gefühlen tabuisiert ist). Oft ist die einschränkende Macht von Systemregeln in Familien so groß, daß es eines Symptom bedarf, um darauf aufmerksam zu machen.

Wenn man Ethik als eine Form von Einschränkung definiert, muß man Kriterien bestimmen, die es ermöglichen, eine Unterscheidung zwischen den beiden Prozessen zu machen. Dazu bieten sich die Begriffe Gehorsamsethik und Verantwortungsethik an. Gehorsamsethik bezieht sich auf "man darf-" und "man darf nicht" Forderungen. Dahinter steht eine "richtig" und "falsch" Orientierung an nicht weiter hinterfragten äußeren Kriterien (man muß immer mit allen zusammen arbeiten, man muß abstinent sein). Demgegenüber sind Maxime der Verantwortungsethik kontext- und situationsbezogen. Für sie ist das dialogische Prinzip i.S. Bubers maßgebend: d. h. Offenheit für den jeweils anderen, für ander Gesellschaften, andere Kulturen und Wertsysteme statt einer Verabsolutierung seiner selbst, der eigenen Kultur; d.h. weiterhin Beziehung statt Gehorsam oder Befehl; d.h. aber auch Auseinandersetzung und Konflikt - statt Selbstverleugnung und Unterwerfung".

Daraus abzuleitende Imperative:

-Sorge dafür,d aß Du handlungsfähig bleibst und suche nach Wegen, wie Dein Gesprächspartner ein wenig mehr handlungsfähig wird als vorher. Darunter fallen vier weitere Imperative:

- Denke und handele ökologisch (es gibt immer einen größeren Kontext).

- Achte auf die Definitionen und Bewertungen, die Du machst (es könnte auch alles ganz anders sein); jede Diagnose wirkt einschränkend auf anderweitige Definitionen des Problems.

- Besinn Dich auf Deine persönliche Verantwortung (es gibt kein richtig und falsch, aber Du bist Teil des Kontextes und alles, was Du tust, hat Konsequenzen).

- Achte darauf, in respektvoller Weise Unterschiede zu schaffen (füge dem Bild des Gesprächspartners etwas Neues hinzu).

Ein systemischer Aphorismus sagt:"Die Definition des Problems ist das Problem!". Die Art und Weise, wie ein Problem von den Beteiligten gesehen wird, bestimmt seine Qualität. Eine - wenn nicht die - zentrale Determinante menschlichen Erlebens stellen die Bedeutungszuweisungen dar, die ein Person vornimmt, um sich ihre Wirklichkeit zu beschreiben, sie zu konstruieren. "Nicht die Dinge beunruhigen uns, sondern unsere Meinungen von den Dingen", schrieb der stoische Philosoph Epiktet vor 2000 Jahren. Ein Problem wird dadurch bestimmt, wie es in einem System definiert ist, wie es versprachlicht ist. Die Begriffe, die wir verwenden, um uns "Wirklichkeit" zu beschreiben, sind gleichzeitig die Handwerkszeuge, durch die diese Wirklichkeit entsteht. Es macht einen Unterschied, ob eine kindliche Verhaltensstörung als "Krankheit" versprachlicht wird, als "Ablösungsproblem" oder als "Opfer", das der/die Betreffende auf sich nimmt, um den Familienzusammenhalt zu gewährleisten.

Dazu eine Mulla Nasrudin Geschichte:

"Mulla, was ist Schicksal," fragte ihn ein Schüler.

"Eine endlose Folge von ineinander verwobenen Ereignissen, die sich gegenseitig beeinflussen."

"Das ist keine sehr befriedigende Antwort," meinte der Schüler, "ich glaube an Ursache und Wirkung."

"Na gut," sagte der Mulla, "siehst Du die Prozession dort.? Der Mann wird zum Galgen geführt. Wieso wird er gehängt? Weil ihm jemand ein Silberstück gegeben hat, mit dem er den Dolch zum Morden gekauft hat, oder weil ihn jemand bei der Tat gesehen hat oder weil ihn niemand aufgehalten hat?"